Und wo ist eigentlich mein Paradies?

Goethe-Institut Nancy (Frankreich), 2019

Wer zur Ausstellung kommt, begegnet als erstes vor der Eingangstreppe einem Teppich aus Sand, mit einem Stück Grenze darauf, aus künstlich rot gefärbtem Sand gestreut. Es ist die Landesgrenze, die Nancy am nächsten liegt, ein Stück der deutsch-französischen Grenze. An den Geländersäulen der Treppe steht ein deutsches Sprichwort: Kann man machen, muss man aber nicht. Man kann Grenzen ziehen, muss man aber nicht. Man kann über den Sand laufen, muss man aber nicht. Man kann auf die Grenze treten, muss man aber nicht. Man kann sie verwischen, muss man aber nicht. Es ist ein spannendes Experiment, wie lange die Grenze wohl bleiben wird. Brauchen wir Grenzen, oder wollen wir sie lieber verwischen?

Ein Teppich ist schon Hinweis auf das Thema Paradies. Ein Teppich bezeichnet einen heiligen Raum, das ist sowohl alte christliche Tradition, wie sich in den äthiopisch- und eritreisch-orthodoxen Kirchen beobachten lässt, wo die Teppiche den allerheiligsten Bereich markieren. Diese Kirchen haben viele Traditionen aufgrund ihrer Isolation über die Jahrtausende bewahrt. Aber auch in Moscheen bezeichnet der Teppich den heiligen Raum. Der fliegende Teppich entführt in fremde Welten und ins Traumland.

Die Grenze ist wichtiges Merkmal von Paradiesvorstellungen – und gleichzeitig das Thema, an dem sich die Geister scheiden. Man vergleiche z.B. das Gemälde des Oberrheinischen Meisters (wahrscheinlich um 1410/1420) „Das Paradiesgärtlein“, auf dem die Mauer um den Garten sehr präsent ist. Sie bietet Schutz und Geborgenheit. Sie ermöglich erst all das schöne, was im Schutz der Mauer möglich ist: Bildung, Musik, Gemeinschaft mit Engeln, freie Verfügbarkeit von Lebensmitteln, Schönheit.

Das Paradiesgärtlein

Braucht unser Paradies eine Mauer? Ist ein Paradies mit Mauer ein Paradies, wenn es andere ausgrenzt?

Und wo ist eigentlich mein Paradies? Fragt Rana Matloub. Denn ihr Paradies ist verschwunden.

Das Paradies ist verloren, sagt die Bibel schon ganz am Anfang. Ob das eine Geschichte über die verlorene Kindheit ist oder über eine paradiesische Zeit in der Menschheitsgeschichte, das wird sich nie eindeutig sagen lassen. Viele haben sich Gedanken gemacht, wo die Bibel wohl das Paradies verortet. Manche sagen, es sei das Sumpfgebiet an der Mündung von Euphrat und Tigris gemeint, im heutigen Irak. Saddam Hussein ließ es trockenlegen, das Paradies ist verloren.

Rana Matloubs Paradies ist verloren. Den Ort ihrer Kindheit musste sie wegen des Krieges zurücklassen. Die Palmen, die sie so liebte, sind nicht nur für sie verloren, viele sind im Laufe der Kriege abgestorben.

Angekommen ist sie in Europa, in Deutschland. Ein Paradies? Teilweise ja. Für manche ja. Aber was wird aus unserem Europa? Wie gehen wir mit unseren Grenzen um? Da gehen die Meinungen weit auseinander.

Nicht ohne Grund sind Utopien wieder im Kommen. Wir kommen ohne eine positive Zielvorstellung nicht aus. Das Paradies liegt nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Zukunft, auch das schon in der Bibel und auch in anderen Religionen und Weltanschauungen.

Die Hoffnung stirbt zuletzt. In der Geschichte von der Arche Noah ist es der Olivenzweig, der Hoffnung auf eine Welt nach der Katastrophe macht.

Man muss auf die Suche gehen. Sagte schon Heinrich von Kleist in seinem berühmten Essay Über das Marionettentheater: „Doch das Paradies ist verloren. Wir müssen erst die Reise um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von hinten wieder offen ist.“ Auch in der Ausstellung muss man auf die Suche gehen. Die Bilder sind nicht alle leicht zu entdecken. Manche verstecken sich. Wie sich im Leben die paradiesischen Momente verstecken. Und die besonderen, paradiesischen Orte. Michel Foucault sprach statt von Utopien von Heterotopien, von anderen Orten. Wo finden wir Orte, an denen mehr vom Paradies zu spüren ist?

Ein Ort mit Olivenbaum. Eine Treppe nach oben.

In vielen Städten sind es die Parks, die Paradiesgärtlein sein wollen. Oasen im Tummel der Stadt. Die Stadt Nancy ist stolz auf ihre Parks und pflegt sie, stellt sie heraus. Pläne der Parks hat Rana Matloub in ihre Ausstellung eingezeichnet. Es sind die Wege, die einen Park erschließen. „Wir brauchen immer Wege, die ordnen unser Leben. Und wenn die Wege nicht passen, entstehen Trampelpfade“, sagt die Künstlerin. Welche Wege und Trampelpfade erschließen uns unser Paradies?

Die Besucher*innen sind eingeladen, auf den Wegen der Parks zu wandeln und sich eine klingende Tasche auszuleihen. Es sind Geräusche zu hören, eine Art Musik. Und Texte, die Künstlerin nennt sie „Miniaturgeschichten“. Es sind einzelne Sätze, die Geschichten entstehen im Kopf.

Die Parks haben immer auch ihre Grenzen. Auf der Suche nach den Bildern wird man auch das ein oder andere irritierende Bild entdecken. Da sind auch die Soldaten. Die Grenzen schützen. „Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt“, sagte mal ein deutscher Verteidigungsminister. Was kostet das Paradies? Auf wessen Kosten funktioniert das Paradies? Wollen wir das alles? Und würden wir anders leben wollen?

Am Abend, mit einbrechender Dunkelheit, gibt es noch etwas zu entdecken: Auf den großen Baum am Eingang wird ein arabisches Muster projiziert. In der arabischen Welt sind viele Gebäude mit solchen Mustern geschmückt, besonders Moscheen, auch Paläste oder Museen. Die Muster sind das Ergebnis komplizierter mathematischer Berechnungen. Sie repräsentieren Formeln. Die arabische Welt hat die antiken mathematischen Erkenntnisse bewahrt und weiterentwickelt. In einem bildlosen Kontext stellten die Muster die Komplexität und gleichzeitig Klarheit der göttlichen Muster im Gegenüber zur unklaren Welt, wie sie vor Augen ist, dar. Mathematik als Paradies?

Rana Matloub projiziert nicht auf ein Gebäude, sondern auf einen Baum. Klarheit finden viele heute eher in der Natur als in allem menschgemachten. Die Natur mit ihren komplexen Mustern ist unser heiliger Ort geworden, unser Paradies. Wird es gelingen, sie zu erhalten?

Text: Stefan Nadolny